Film
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Der rumänische Regisseur Cristian Mungiu irritiert mit seinem neuen Meisterwerk «R.M.N.» und jagt das Publikum aus vermeintlichen Sicherheiten. Im Gespräch erklärt er, warum politische Korrektheit wenig bringt, ja gefährlich ist.
Eine Flamme bricht durch das Fenster der Pension, in dem die Männer aus Sri Lanka untergebracht sind. Draussen vor dem Haus stehen maskierte Häscher im Schnee: Sie sollen die Fremden vertreiben. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Hauben an den Aufzug des Ku-Klux-Klan erinnern: Der Fremdenhass ist eine Maske, die der Einzelne sich überzieht, um in der Masse aufzugehen.
«Mein Film handelt vom Verhältnis zwischen der Verantwortung des Einzelnen und seinem Aufgehen in der Masse. Wann gibt jemand seine Individualität auf und gibt sich dem Marsch der Gruppe hin?» Cristian Mungiu sitzt im Zoom-Call vor seinem Bücherregal in Bukarest, um über seinen grossartigen neuen Film «R.M.N.» zu sprechen.
2007 hat der Filmemacher mit «4 Months, 3 Weeks and 2 Days» die Goldene Palme in Cannes gewonnen. Bis heute ist der Film das Aushängeschild einer rumänischen Welle an sozialrealistischen Filmen, die in ebendieser Zeit grosse Aufmerksamkeit erregten, weil sie sich mit aller ästhetisch-narrativen Konsequenz mit dem Erbe der 1989 beendeten Ceaușescu-Diktatur auseinandersetzen.
Auf welche Weise man die Verbindungslinie zwischen der bitter-melancholischen Komik in Cristi Puius «The Death of Mr. Lazarescu», der unerbittlichen Strenge von «4 Months, 3 Weeks and 2 Days» und den satirischen Filmen eines Radu Jude, zuletzt «Bad Luck Banging or Loony Porn», auch ziehen mag: Im Kern all dieser Filme liegt ein dunkler Ernst.
Und vielleicht ist es so gesehen auch keine grosse Überraschung, dass jetzt, in diesen dunklen Zeiten, den Weltfluchtphantasien einer «Avatar»-Fortsetzung mehr Aufmerksamkeit zuteilwird als dem wesentlich komplexeren und düsteren «R.M.N.», der aufwühlt und keinen Trost im Spektakel anbietet.
Hinter dem dunklen Ernst von Mungius Filmen verbirgt sich eine klare Weltsicht: «Reality has no conclusion», wie er es im Gespräch ausdrückt. Eine schöne Formulierung, die meint: Im wirklichen Leben fügen sich die Dinge nicht wie in einem Drehbuch. Widersprüchlich und mehrdeutig ist die Welt. Wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen. Ein Film kann zu solcher Auseinandersetzung den Anlass geben. Aber eben nur, wenn er seinem Publikum selbst keine Haltung aufzwingt. Mungius Kino sät also Zweifel.
«R.M.N.» erzählt die Geschichte von Matthias (Marin Grigore), dessen Leben ganz buchstäblich aus der Fassung gerät. Seit einiger Zeit verdient er in einem deutschen Schlachtbetrieb sein Geld, das er auch an seine Familie in Rumänien schickt. Als es wegen einer rassistischen Beleidigung zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten kommt, bricht er seine Zelte ab und kehrt in das kleine, von dunklen Wäldern umgebene Dorf in Siebenbürgen zurück.
Doch ist ihm auch die Heimat fremd geworden. Sein kleiner Sohn Rudi (Mark Blenyesi) spricht aufgrund einer traumatischen Situation im Wald nicht mehr, seine Ehe besteht nur noch auf dem Papier. Einzig bei seiner ehemaligen Geliebten Csilla (Judith State) glaubt er noch einen Halt zu finden. Diese leitet mittlerweile die örtliche Backfabrik. Als dort Gastarbeiter aus Sri Lanka angestellt werden, breitet sich panischer Fremdenhass und brutale Angst im Dorf aus, und Matthias gerät zwischen alle Fronten.
Das, was Zuschauer abschreckt, ist die Kombination aus sozialen Themen und Realismus.
Mungiu weiss, dass es seine Filme in Zeiten einer um sich greifenden Sehnsucht nach Eskapismus schwer haben: «Das, was Zuschauer abschreckt, ist die Kombination aus sozialen Themen und Realismus. Ich weiss das durch meine Arbeit für rumänische Festivals, beobachte die Entwicklungen bei Distribution und Verleih genau. Ist ein Film nicht lustig, verspricht er keine grosse Leichtigkeit und wirft er zudem kritische Fragen auf – die Zielgruppe wird dann sehr, sehr klein», sagt er.
Mungiu, 1968 in Iași geboren, ist Überzeugungstäter und das Kino seine Sprache: «Diese Sprache kann man natürlich für ziemlich einfache Unterhaltung benutzen. Dagegen ist auch grundsätzlich nichts einzuwenden. Doch eignet sich das Kino darüber hinaus auch als Ausdruck von Dingen, die nur der Film auf diese Weise erzählen kann.»
«R.M.N.» ist damit nicht einfach ein Film über Xenophobie und Rassismus. Es geht vielmehr um die existenziellen und widersprüchlichen Bruchstellen im Leben von uns allen. Mungiu ist Realist und zeigt, wie schnell die menschliche Furcht vor dem Unbekannten sich als gewaltvolle und körperliche Kraft ausbreitet und sich im Einzelnen und im Kollektiv festsetzt.
In den gesellschaftlichen Debatten werden diese Ängste auf den Platz der hehren moralisch-ethischen Prinzipien verwiesen. Für den Filmemacher eine Unmöglichkeit: «Wenn uns die Dinge, die wir nicht verstehen, zu nah kommen, zeigt sich der Abstand zwischen ideellen Werten – wie Gerechtigkeit und Nächstenliebe – und der Realität, die sich in ihrem eigenen Rhythmus entwickelt. Als Filmemacher sollte man sich nicht so sehr von den abstrakten Modellen, den Utopien verführen lassen, sondern die Welt abbilden, wie sie ist.»
Die Welt abbilden, das ist für Mungiu eine Form von Wahrhaftigkeit. In «R.M.N.» gibt es eine Szene, die in dieser Hinsicht das Herzstück des Films darstellt und an der sich die grosse Kunst dieses Filmemachers veranschaulichen lässt: In 17 langen, ungeschnittenen Minuten, die in nur einer Einstellung gezeigt werden, wohnen wir einer Dorfversammlung im Kulturzentrum bei, denn in der Wirklichkeit gäbe es schliesslich auch keine Montage.
Die Mehrheit wehrt sich mit schonungsloser Offenheit gegen die fremden Arbeiter. Ein lautes Durcheinander aus Rassismus und Ängsten, Halbwissen und sozialen Differenzen brandet auf. An den Konfliktlinien zwischen allen ethnischen Gruppen – neben Rumänen leben in Siebenbürgen auch eine ungarische und eine deutsche Minderheit – versinken die Menschen in Widersprüchlichkeiten.
Viele der wütend ausgespuckten Sätze in dieser Szene kennen wir aus den politischen Debatten um Zuwanderung. Sie sind verletzend. Mungiu aber verurteilt und kommentiert nichts. Es mag Menschen geben, die ihm deshalb Haltungslosigkeit vorwerfen.
Mungiu verurteilt und kommentiert nichts. Es mag Menschen geben, die ihm deshalb Haltungslosigkeit vorwerfen.
Der Regisseur aber ist überzeugt, dass ein Film dem Publikum den Rahmen für eine konzentrierte Wahrnehmung geben kann: «Diese Versammlung könnte überall auf der Welt stattfinden. Diese Szene zitiert also einen Moment aus der Wirklichkeit. Dabei geht es um Aufmerksamkeit: Sobald du jene Dinge für den Film inszenierst, ohne sie zu verzerren, das heisst, ohne ihnen eine Kohärenz überzustülpen oder sie zu bewerten, sind wir zum Zuhören gezwungen.»
Das ist es also, was das Kino kann: dem Fremden in uns und ausserhalb von uns Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen, uns irritieren und aus vermeintlichen Sicherheiten jagen: Wir müssen vor uns selbst erschrecken. Daher kommt der rumänische Filmemacher während des Gesprächs immer wieder auf das Zuhören zurück.
Vor allem im Zwang zur politischen Korrektheit sieht er gegenwärtig eine weitere Gefahr, weshalb er seinen Figuren lediglich folgt und sich des Urteils enthält: «Wir Menschen haben gelernt, dass es gegenwärtig besser ist, zuerst die Art und Weise des Sprechens zu ändern, bevor wir die eigentliche Sache verändern. Natürlich sollen wir niemanden durch Sprache verletzen, aber dieses Beharren auf den sprachlichen Dimensionen verändert nur wenig.»
Mungiu ist davon überzeugt, dass die Menschen sich frei ausdrücken müssen. Nur dann, wenn sie sich nicht verstellen, könnten sie erkennen, was sich unter der Oberfläche zusammenbraut. Daher habe diese Versammlung im Film eben auch eine positive Dimension: Man könne nun, da die Dinge ausgesprochen seien, damit beginnen, die Knoten der Gemeinschaft zu lösen.
Mungiu steht für ein Kino, das sich wahrlich zur Welt in Bezug setzt und einer verunsichernden Komplexität Raum gibt, statt Möglichkeiten des Eskapismus anzubieten.
Die Dominanz von Unterhaltungsfilmen habe derart zugenommen, dass die Räume für Filme wie die seinen immer kleiner würden, stellt er fest. Das ist ein Verlust. Denn von Figuren wie den blauen, am Computer erschaffenen Wesen aus «Avatar» oder von rein auf Spannung hin komponierten Krimiserien auf Netflix sind keine Antworten auf die komplexen Fragen unserer Gegenwart zu erwarten.
Sebastian Seidler ist Autor in der Kultur der NZZ am Sonntag /// «R.M.N.». ROU/F/B/SWE 2022, 125 Min. Von: Cristian Mungiu. Mit: Marin Grigore, Judith State. Im Kino.
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